Zum Widerruf ausgerufene Schriften

Die Schriften, die Luther zum Widerruf vorgelegt wurden

Als ’Erinnerungsort‘ an Luthers Auftritt vor dem Reichstag sind die zwischen 1519 und Anfang 1521 gedruckten Schriften hervorzuheben, die Luther am 17. April widerrufen sollte. Luther bekannte sich zu den Schriften, die - so Luther 1540 in einer Tischrede (WA TR 5, 5342a u. b) - im Verhandlungssaal „uff einer banck“ (WA TR 5, 70, 5342b) bzw. „in fenestra“ (WA TR 5, 66, 5342a - gemeint ist wohl Fensterbank) auslagen, nachdem ihm auf Aufforderung („Intitulentur libri!“ =Die Bücher sollen bei ihren Titeln genannt werden) seines Rechtsbeistandes, des kurfürstlich-sächsischen Rates Hieronymus Schurff, die Titel einzeln vorgelesen worden waren. Die 22 Drucke, 12 deutsche und 10 lateinische, darunter die Hauptschriften von 1520, hatte Nuntius Aleander, der an dem Luther-Verhör selbst nicht teilnahm, wohl kurzfristig bei Buchführern (Wanderbuchhändlern) in Worms erworben, um sie dem Verhandlungsführer Johannes von der Ecken, Offizial (Vorsteher) des trierischen Kirchengerichts, zu übergeben; insofern erfolgte die Zusammenstellung sicherlich zufällig nach dem aktuellen Angebot auf dem Wormser ‚Buchmarkt‘, was etwa erklären könnte, warum das Konvolut Von den guten Werken (1520) und Appellatio ad concilium (1520) in der deutschen und lateinischen Ausgabe umfasste. Wohl nicht erforderlich erschien eine Sammlung von allen bis dahin gedruckten Schriften Luthers, vielmehr diente der Bücherstapel als pars pro toto, um Luther exemplarisch mit seinen Schriften als Häretiker ‚vorzuführen‘. Der Wormser Bücherstapel enthielt allerdings kaum ein Werk, das bereits unter Luthers Sätzen und Schriften in der Bannandrohungsbulle Exsurge domine vom Juni 1520 verurteilt worden war.

Die Aleander-Liste

Die Titel - nicht die genaue Ausgabe - listete Aleander in Latein auf. Diese Titelliste gelangte nach seinem Tod mit seinem schriftlichen Nachlass in das Vatikanische Archiv, seine Privatbibliothek, darunter die meisten, wenn nicht alle Titel, die im Wormser Bücherstapel vertreten waren, in die Bibliotheca Vaticana. (Eine ‚Rekonstruktion‘ des Wormser Bücherstapels auf der Grundlage von Aleanders Büchernachlass in der Vaticana ist offenbar bis heute noch nicht vorgenommen worden. Allerdings ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass genau die Exemplare des Wormser Bücherstapels anschließend in Aleanders Privatbibliothek gelangt sind.)

Bernd Moeller: Luthers Bücher auf dem Wormser Reichstag von 1521, in: Aus Archiven und Bibliotheken. Festschrift für Raymund Kottje zum 65. Geburtstag hrsg. von Hubert Mordek, Frankfurt a.M. (u.a.) 1992 (Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte ; Bd 3), S. 523-545

Es handelt sich ganz überwiegend um preisgünstige Flugschriften von geringem bis mittlerem Umfang im Quartformat (1-16 Druckbögen = 4-64 Blätter), die meisten davon in Deutsch. Allerdings nehmen die lateinischen Schriften etwa drei Viertel des gesamten Textumfangs ein; unter ihnen befinden sich die beiden einzigen dicken Folianten (aus einfach gefalteten Druckbögen – Format 2°): der erste Teil der Lucubrationes (=Nachtarbeiten), ein Sammelwerk von Lutherschriften (davon einige in Übersetzung der ursprünglichen deutschen Ausgabe), und der Psalmenkommentar (Operationes in Psalmos), die 1520 bzw. Anfang 1521 bei Adam Petri in Basel erschienen. Luther konnte mit dem Vorwurf leben, er „mach nur kleyn sexternlin [Flugschriften aus sechs ineinander liegenden Papierbögen, Anm. d. Verf.] und deutsche prediget fur die ungeleretenn leyenn“. Die kleinen volkssprachigen Flugschriften hielt Luther für die „Christenheit“ brauchbarer als die „hohen grossen buchern und question, in den schulen under den gelereten allein gehandelt.“ (Widmung an Herzog Johann den Beständigen von Sachsen, in: Von den guten Werken, 1520, WA 6,203)


Der ‚Bücherstapel‘ auf Illustrationen von Luthers Widerrunfsverweigerung

Insofern gibt die Darstellung der Reichstagsszene sowohl in zeitgenössischen Holzschnitten als auch in bekannten Historiengemälden des 19. Jahrhunderts ein falsches Bild: Dort liegen zumeist nur ‚dicke‘ Bücher auf dem Boden oder auf dem Tisch, so schon auf der wohl ältesten Darstellung, die als Titelholzschnitt für eine noch 1521 erschienene Augsburger Ausgabe des Lutherverhörs in der Übersetzung von Spalatin diente: Doctor Martini Luthers offenliche Verhör zu Worms jm Reichstag, Red, Vnd Widerred Am. 17. tag, Aprilis, Im jar 1521 Beschechen. - Augsburg: Melchior Ramminger 1521 (VD16 L 3655) – [in der Stadtbibliothek Worms nicht vorhanden].

Illustration Luther Reichstagsszene
Illustration Luther Reichstagsszene

Das seit dem Lutherjahr 1883 im Lutherhaus zu Wittenberg ausgestellte Gemälde Luther auf dem Reichstag zu Worms, das der Dresdner Historienmaler Hermann Freihold Plüddemann 1864 für die Marienkirche zu Kolberg geschaffen hatte, zeigt ausschließlich dicke, auf einem Tisch gestapelte Bücher, zu denen sich Luther unter Berufung auf Christus am Kreuz in einer theatralischen Geste bekennt. - Kaiser Wilhelm I. veranlasste, dass eine Reproduktion des Gemäldes in allen Schulen Preußens hing.

Gemälde Luther Maler Plueddemann
Gemälde Luther Maler Plueddemann

Die meisten Schriften, die Luther zum Widerruf vorgelegt wurden, stammten aus dem Jahr 1520, in dem Luther die entscheidende publizistische Grundlage für den Erfolg der Reformation schuf. In ungefähr 250 Drucken mit einer geschätzten Gesamtauflage von über 200.000 Exemplaren wurden 1520 vierzehn deutsche, sechs lateinische sowie sechs deutsche Übersetzungen lateinischer und vier lateinische Übersetzungen deutscher Schriften publiziert. (Im Vergleich zu den Auflagenzahlen heutiger Bestseller nehmen sich die 200.000 innerhalb eines Jahres gedruckten Exemplare allerdings ‚bescheiden‘ aus: So erreichte etwa die im November 2018 erschienene Autobiographie von Michelle Obama innerhalb eines halben Jahres eine Gesamtauflage von über 10 Millionen Exemplaren!) Vor 1517 hatte Luther praktisch nichts veröffentlicht. Als er nach Worms reiste, belief sich die Gesamtauflage seiner Schriften auf über 600 Ausgaben, etwa eine halbe Million Exemplare, denn einige Schriften wurden in größeren Auflagen als die üblichen 700 Exemplare gedruckt. Ende 1521 war Luther der meistpublizierte Autor und blieb dies bis zum Ende des 16. Jahrhunderts.

Ohne Buchdruck keine Reformation

Luther war sich der Bedeutung des Buchdrucks für die Verbreitung und Durchsetzung der Reformation sehr bewusst: „Chalcographia est summum et postremum donum, durch welche Gott die sache treibet. Es ist die letzte flamme vor dem ausleschen der welt; sie ist Gott lob am ende. Sancti patres dormientes (ut Apocalypsis dicit) desiderant hunc diem.“ (=Der Buchdruck ist das höchste und letzte Geschenk…. Die entschlafenen heiligen Väter sehnen diesen Tag herbei, wie die Apokalypse sagt. – Apk 11,12f.) (Tischreden, Sammlung Konrad Cordatus 28.9.-23.11.1532, WA Tr 2, 650, Nr. 2772b)
Wie das Zitat auch zeigt, sah Luther - wie viele seiner Zeitgenossen – den Weltuntergang bevorstehen, sah sich insofern als Endzeitprophet.

Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation, 1. Aufl., Frankfurt a.M./Leipzig 2009, S. 266f.
Andrew Pettegree: Die Reformation als Medienereignis, in: Martin Luther. Aufbruch in eine neue Welt / Hrsg.: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Landesmuseum für Vorgeschichte (u.a.), Dresden 2016, S. 115-121, hier: S. 116f.

Ohne den Buchdruck wäre Luther wohl genauso gescheitert wie die auf dem Wormser Lutherdenkmal unter ihm sitzenden ‚Vorreformatoren‘ John Wyclif (um 1330-1384) und Johannes Hus (um 1370-1415), die sich noch nicht Gutenbergs Erfindung zur Verbreitung ihrer 1415 auf dem Konzil zu Konstanz verurteilten ‚ketzerischen‘ Lehre bedienen konnten.

Von den zwölf von Aleander gelisteten deutschen Schriften („Libri Martini Lutheri Alemanici“) sind in der Stadtbibliothek Worms (Luther-Bibliothek) elf Titel vorhanden, davon zwei in jeweils zwei Ausgaben. 

Von den zehn von Aleander gelisteten lateinischen Schriften („Latini“) sind in der Stadtbibliothek Worms (Luther-Bibliothek) nur sieben in entsprechender Ausgabe vorhanden. 

deutsche Lutherschriften

lateinische Lutherschriften

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